Ich schlendere durch die Bahnhofs-Buchhandlung, mein Blick schweift über die Bestseller und Neuzugänge. Da, es springt mich geradezu an: Ein Buch von Irvin und Marilyn Yalom über den Tod und das Sterben – was heißt das? Ich reiße den Schutzumschlag ab und erfasse mit einem Blick, dass Marilyn bereits im November 2019 an den Folgen einer Krebserkrankung verstorben ist. Nun ist offensichtlich ein Buch der beiden erschienen, die deutsche Ausgabe noch druckfrisch vom 10. Mai. Gerade mal vier Tage auf dem Markt! Beste Reiselektüre, da bin ich mir sicher.
Anteil nehmen an den letzten gemeinsamen Monaten und der Zeit danach
„Der Tod einer 87-jährigen Frau, die nichts im Leben bedauert, hat nichts Tragisches“, so die Haltung der schwerkranken Marilyn Yalom angesichts ihres bevorstehenden Todes. Tragisch ist es für die, die weiter leben werden, allen voran ihr Mann Irvin Yalom, den sie nach 65 glücklichen Ehejahren zurücklassen muss.
Gemeinsam beginnen sie dieses Buch in ihrem letzten Frühjahr, beschreiben abwechselnd ihr Erleben, ihre Gedanken und Gefühle der letzten Monaten des Zusammenseins. Einsam schreibt er es zu Ende. Die letzte Tage und Stunden an ihrem Bett, der erlösenden Tod, Abschied am Grab. Über das Verlorensein in der Welt und die unfassbare Trauer in den ersten Wochen und Monaten als Witwer. Das Buch endet im März 2020, „125 Tage danach“, die Corona-Pandemie prägt inzwischen auch Kaliforniens Alltag. Die tiefste Phase von Schmerz und Depression scheinen überwunden, weichen lichten Momenten und einem Empfinden von Trost.
Phasen von Krankheit, Sterben und Trauer, wie sie so oft schon beschrieben wurden, wie ich sie so oft schon gehört habe, teils auch begleiten durfte. Und dennoch ist dieses Buch von Irvin und Marilyn Yalom für mich so besonders, weil die beiden mir über die Jahre so vertraut geworden sind. Ausschließlich über ihre Literatur, aber es fühlt sich an, als nähme ich Anteil am Leben eines befreundeten Paares.
Das literarische Schaffen von Irvin Yalom
Vor Jahren ist mir „Denn alles ist vergänglich – Geschichten aus der Psychotherapie“ zugefallen, und ich konnte es nicht mehr aus der Hand legen. Solch eine liebevolle, menschliche und zugleich professionelle Zugewandtheit, die der erfahrene Arzt und Psychotherapeut darin beschreibt. In den folgenden Monaten las ich mich durch das umfangreiche Werk Yaloms: Romane, therapeutisch-philosophische Sachbücher, hörte ein berührendes TV-Interview.
Der Psychotherapeut Yalom wurde, obwohl ich ihn nie persönlich kennengelernt habe, zu einem väterlichen Lehrer, wie ich mir immer einen gewünscht habe. Durch die Lektüre habe ich mich so unterstützt gefühlt in meiner Haltung den wesentlichen Fragen des Lebens gegenüber, in meiner Art Gespräche zu führen. Ich, die ich mich manchmal in meiner Praxisarbeit als unkonventionell empfunden habe, fühlte Rückenstärkung und ein „Mach weiter so“, wie es eben gute Lehrer*innen tun.
Tiefe Spuren hat sein Buch „In die Sonne schauen“ bei mir hinterlassen, beschäftigt sich der erfahrene Psychotherapeut darin doch intensiv mit der Angst vor dem Tod. Seiner eignen und der zahlloser Patient*innen. Schon damals formuliert er sehr klar den Zusammenhang zwischen dem „ungelebten Leben“ und der Todesangst – auch dies ist ja kein neuer Gedanke.
Welche Freude war es schließlich, seine in 2017 erschienenen Memoiren zu lesen, die er als sein letztes Buch ankündigte: „Wie man wird, was man ist“. Er gewährt darin viele private Einblicke: Wie er Marilyn schon als 15-Jährige kennen und lieben gelernt hat, von der Zeit Universitäts-Laufbahn sowie der Elternschaft mit vier Kindern und von der gemeinsamen Ehe als intellektuelles Paar, bei dem Bücher und das Schaffen von Literatur zentrales Lebensthema und verbindendes Element waren.
Die Werke von Marilyn Yalom
So wurde ich über ihn auf die Werke Marilyn Yaloms aufmerksam. Eine Literaturwissenschaftlerin mit einer großen Affinität zu Europa, und hier vor allem zu Frankreich und zur französische Sprache. In ihrer Ehe ist sie die Reisefreudige und Kommunikative. Auch Marilyn wirkt als Hochschul-Professorin, und hinterlässt bedeutende Bücher wie „Freundinnen“, „Brust“ oder, erst nach ihrem Tode erschienen „Das Herz – eine besondere Geschichte der Liebe“.
So liegt nahe, dass die Beiden auch die intensive Zeit mit der Krebserkrankung, mit Chemotherapie, mit Hoffen und Bangen, literarisch festhalten, und dass sie darin immer wieder Reflexion und Halt finden. Auch der hochaltirige Irvin hat gesundheitliche Herausforderungen zu meistern, die jedoch angesichts des intensiven Leidens der geliebten Frau in den Hintergrund treten.
Allzu menschliche Themen des Alters und mit schwerer Erkrankung
Die Themen des Inhaltsverzeichnisses ähneln so sehr dem, was viele Menschen in solch einer Sitution beschäftigt: Wie lange noch die Therapie fortsetzen, wann ist es Zeit für die Palliativbegleitung? Die Bewältigung von Schmerz und Übelkeit, von abgrundtiefer Schwäche und Müdigkeit. Im vertrauten Hause wohnen bleiben oder es aufgeben und in Betreutes Wohnen umziehen? Wohin mit all den Büchern, den Aufzeichnungen, den Erinnerungen an ein intensiv gelebtes Leben? Für wen hat all dies Bedeutung, wer wird sich dermaleinst an sie erinnern?
Besonderen Respekt empfinde ich davor, dass Irvin und Marilyn auch das Thema des assistierten Suizids mutig ansprechen, ja sogar die Gedanken, mit seiner geliebten Frau mit in den Tod zu gehen, vertraut uns der verzweifelte Hochbetagte an. Wir bekommen Einblick in die Rechtslage in Kalifornien und den Umgang vonseiten der Ärzteschaft mit dem Gesuch nach Beistand und Erlösung am Lebensende.
Als Leserin zerreißt es mir geradezu das Herz, wenn ich von der unendlichen Leere und Trostlosigkeit nach dem Tod lese. Von den Erinnerungslücken bei der Trauerfeier und dem anschließenden Zusammensein mit der Familie. Irvin beschreibt sich als Mensch, und erlebt, wie ihm seine Professionalität auch erst mal nicht weiterhilft. Zumindest in der ersten Zeit. Ist sich seiner privilegierten Situation durchaus bewusst, aber im tiefen Leiden ist er einfach nur „Mensch“ wie alle anderen.
Nach Wochen wendet er sich dann seinen früheren Werken zu, greift das ein oder andere Buch heraus, liest es langsam nochmal – oft nach Jahren, in denen er nicht mehr hineingeschaut hatte – und findet langsam wieder Trost. Er, der selbst so vielen seiner Ratsuchenden in Trauerphasen zur Seite steht, findet nun Antworten in den Geschichten, die er selbst zu Papier gebracht hat.
Langsam kann er aus seiner abgrundtiefen Verlassenheit auftauchen (die er empfindet, obwohl er liebevoll von seinen Kindern, Kollegen und Freund*innen umgeben ist).
Für wen empfehle ich „Unzertrennlich“?
Für alle, die beruflich mit dem Thema Krankheit, Sterben und Tod befasst sind. Für Menschen mit einer schweren, lebensverkürzenden Erkrankung, für Menschen in hohem Alter. Für Angehörige, die nach dem Tod eines geliebten Menschen Trost suchen – für die es hilfreich ist zu sehen: Hier ist ein Mensch, der Ähnliches durchlebt hat.
Ich danke dem Autorenpaar, dass sie dieses so persönliche und menschliche Buch geschrieben haben, und vor Allem danke ich Irvin Yalom, dass er entgegen seiner Beteuerungen in den Memoiren nun doch noch mal zu Feder und Stift gegriffen hat.
Am 13. Juni 2021 wird er seinen 90. Geburtstag begehen können, wenn es das Leben so will. Inmitten seiner großen Familie, ohne seine geliebte Frau. Verbunden mit ihr auf andere Weise: Unzertrennlich.
Links und Literaturhinweise:
Interview in der Reihe „Sternstunde Philosophie“ bei SFR Kultur (2014): Irvin Yalom – Psychotherapeut aus Leidenschaft. https://www.youtube.com/watch?v=Gx9J8j2Xz0g
von Irvin D. Yalom u.a. sind bei btw erschienen:
- In die Sonne schauen (2008)
- Denn alles ist vergänglich – Geschichten aus der Psychotherapie (2015)
- Wie man wird, was man ist – Memoiren eines Psychotherapeuten (2017)
wichtige Werke von Marilyn Yalom:
- Freundinnen. Eine Kulturgeschichte (2017)
- Eine Geschichte der Brust (1998)
- Das Herz – eine besondere Geschichte der Liebe (2021)
Irvin D. Yalom und Marilyn Yalom:
- Unzertrennlich – Über den Tod und das Leben (2021)